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Die Landesbibliothek
Kassel (heute Teil der Universitätsbibliothek), an der die Brüder
Grimm selbst zwischen 1814 / 16 und 1829 Bibliothekare waren, besaß bis
1945 eine der umfangreichsten und bedeutendsten Grimm-Sammlungen. Zu
den Grimm-Beständen der Landesbibliothek Kassel hatten auch die Nachfahren der
Brüder Grimm mehrfach Beiträge geleistet, so daß Kassel Standort für
einen Teil des Nachlasses der Brüder Grimm wurde. Unter diesen direkt
aus der Familie der Brüder Grimm stammenden Beständen waren auch elf
Bände Handexemplare eigener Werke der Brüder Grimm: das in zwei
Teilbände aufgeteilte, auf gutem Schreibpapier mit breitem Rand
gedruckte Handexemplar des ersten Bandes von Jacob Grimms “Deutscher
Grammatik” in der Erstausgabe von 1819 sowie neun Bände Handexemplare
der “Kinder- und Hausmärchen” (KHM) aus verschiedenen Auflagen,
darunter die berühmten zwei Bände der Erstausgabe mit Notizen der
Brüder Grimm, wer ihnen wann welche der Märchen lieferte.
Ab 1959 befanden sich die
Handexemplare im Brüder
Grimm-Museum Kassel, wo sie für Ausstellungen und
Forschungsarbeiten genutzt wurden. 2004 stellte die Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. einen Antrag bei der UNESCO, fünf Bände
der Märchen-Handexemplare (die zwei Bände der Erstausgabe und drei
Bände der zweiten Ausgabe von 1819 / 1822 ) in die Liste des Weltdokumentenerbes
(Memory of the World) aufzunehmen. Überraschenderweise heißt es im
Antragstext, die Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. sei seit 1897
kontinuierlich im Besitz dieser Exemplare, sei Eigentümerin und
Inhaberin des Copyright. Dieser Eigentumsanspruch widerspricht dem
bisherigen Kenntnisstand zur Überlieferungs- und Eigentumsgeschichte —
Grund genug, die zum Thema verfügbaren Quellen zu sichten und zu
prüfen, wann und wie die Bücher nach Kassel gelangten und wem sie
gehörten. Die bisherigen Rechercheergebnisse werden im folgenden
veröffentlicht und die Texte der wichtigsten Dokumente zur
Überlieferungsgeschichte vollständig zugänglich gemacht. Wir gehen
dabei von dem Antrag aus, den die Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. 2004
bei der UNESCO stellte.
Für Ergänzungen und Berichtigungen sind wir dankbar und bitten darum,
sie entweder unter http://www.grimmforum.de
oder per E-Mail an info@grimmnetz.de
zu übermitteln.
1. Antrag der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. an
die UNESCO
... offizieller
Antragstext von 2004 auf der Website der UNESCO
Der Antrag der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. auf Registrierung von fünf Bänden der
Märchen-Handexemplare als Weltdokumentenerbe ist auf der Website der
UNESCO in der englischen und französischen Originalfassung zugänglich.
Nach einer Würdigung der Grimmschen Märchensammlung, Angaben zur
Antragstellerin, einer nochmaligen ausführlichen Würdigung der “Kinder-
und Hausmärchen” und einer knappen Zusammenfassung der überlieferten
Quellen zur Entstehungsgeschichte der KHM wird im Unterabschnitt History
die Überlieferungsgeschichte der fünf Bände referiert, die als
Weltdokumentenerbe angemeldet werden.
The Kassel Handexemplare
(Annotated Reference Copies) come from the personal estate of the
Brothers Grimm; the handwritten entries and notes refer, for the most
part, to their great Kassel Period (until 1829); some later entries
were added during their Göttingen (1830-1837/8) and Berlin
(1841-1859/63) Periods.
After the Brüder Grimm-Gesellschaft e.V.
(Brothers Grimm Association), whose first member was Herman Grimm, son
of Wilhelm Grimm, was founded in 1897, the association acquired the
Handexemplare of the Grimms Brothers’ most important works (including
the “German Grammar” of 1819, et al.) for the Kassel Grimms collection.
Since 1959, the Kassel Handexemplare have been preserved in the Brüder
Grimm-Museum, Kassel.
(S. 4; Hervorhebung von der Redaktion Grimmnetz.de)
Im Punkt 4 des Antrags (Justification
for inclusion, assessment against criteria), Unterpunkt 4.1 (Authenticity)
werden diese Aussagen nochmals wiederholt:
The KHM were in the possession
of the Brothers Grimm themselves until 1859/1863; thereafter in the
possession of Hermann Grimm, eldest son of Wilhelm Grimm; from 1897
onward and without interruption in the possession of the Brüder
Grimm-Gesellschaft e.V. Kassel(Association of the Brothers Grimm).
(S. 8, Hervorhebung Grimmnetz)
Aufbauend auf die zitierten
Angaben zur Überlieferungsgeschichte trifft der Antrag der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. im Punkt 5 (Legal information) folgende
Feststellungen:
5.1 Owner (name and contact
details)
Association of the Brothers Grimm / Museum of the Brothers Grimm
Brüder Grimm-Gesellschaft e.V. / Brüder Grimm-Museum Kassel
...
5.3. Legal status
(a) Category of ownership
Public Foundation
(b) Accessibility
The Kassel Handexemplare (Annotated Reference Copies) are part of the
permanent exhibition within the Museum of the Brothers Grimm in Kassel,
located in the historic Palais Bellevue; they are, however, also
available to researchers and interested laypersons.
(c) Copyright status
The Association of the Brothers Grimm (Brüder
Grimm-Gesellschaft e.V.) holds all copyrights of the Kassel
Handexemplare (Annotated Reference Copies).
(d). Responsible administration
All technical aspects of conservation and security are guaranteed by
qualified employees at the Museum of the Brothers Grimm in Kassel.
The Kassel Handexemplare (Annotated Reference
Copies) have been part of the Kassel Grimms Collection since 1897
and are preserved in the Museum of the Brothers Grimm in Kassel.
(S. 10, Hervorhebung Grimmnetz)
Noch eindeutiger heißt es im
abschließenden Punkt 7:
7. Consultation
(a) Owner
Brüder Grimm-Gesellschaft e.V.
Brüder Grimm-Platz 4A
34117 Kassel
Germany.
(b) Custodian
Dr. Bernhard Lauer
Der Antrag der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. zur Registrierung der Märchen-Handexemplare
als Weltdokumentenerbe wurde 2005 von der UNESCO angenommen. Zweifellos
verdienen diese historischen Bücher eine solche Ehrung. Es kann jedoch
nicht hingenommen werden, daß die Überlieferungsgeschichte der
Exemplare und ihr Eigentumsstatus durch die Brüder Grimm-Gesellschaft
e. V. entstellt wurden und daß sich infolgedessen auf den Websites der
UNESCO die fälschliche Information befindet, die Handexemplare seien
Eigentum dieser Gesellschaft. Vielmehr ist folgendes festzustellen:
- Die Märchen-Exemplare
kamen 1932, nicht 1897 nach Kassel.
- Die Märchen-Exemplare
wurden bis 1945 keiner Grimm-Gesellschaft übergeben; 1932 bestand keine
Grimm-Gesellschaft.
- Eigentümerin der Exemplare
von der Übergabe 1932 bis nach dem Zweiten Weltkrieg war die
Landesbibliothek Kassel; dies entsprach einer Verfügung Herman Grimms.
- Ähnliches gilt für die im
Antrag der Brüder Grimm-Gesellschaft genannten Handexemplare der
“Deutschen Grammatik”. Herman, Rudolf und Auguste Grimm schenkten sie
der Landesbibliothek Kassel 1885; bis 1945 waren sie zweifelsfrei in
deren Eigentum.
Quellen, die diese Tatsachen
belegen, waren frei verfügbar und sind der Antragstellerin zum Teil
nachweislich bekannt gewesen. Die falschen Angaben im UNESCO-Antrag der
Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. laufen de facto auf eine Umwidmung
öffentlichen Eigentums in Eigentum eines eingetragenen Vereins hinaus.
1a. Richtlinien der UNESCO
... Richtlinien
zum Programm Memory of the World von Ray Edmondson (2002)
Die Verfahrensweise
bei Nominierungen für das UNESCO-Register des Weltdokumentenerbes
(Memory of the World) ist festgelegt in den “General Guidelines to
Safeguard Documentary Heritage. (Revised Version.) Prepared for UNESCO
by Ray Edmondson” (2002). Dort heißt es auf S. 44 f.:
5.1 and 5.2
Sometimes the custodian of the documentary heritage may not be the same
as the owner. It is essential to establish both before a nomination can
be added to the Register.
5.3 It is also essential to establish the full legal status of the
documentary heritage as follows:
(a) Category of ownership: for example, is it owned privately, or by a
public institution, or by a commercial corporation?
(b) Accessibility: are there factors which will limit public access to
the material? Refer to section 3.4 to identify these factors.
(c) Copyright status: is any or all of the documentary heritage subject
to copyright? Can the copyright owner(s) and their entitlements be
identified?
(d) Responsible administration: who is legally responsible for
safekeeping of the material, and how is that responsibility being
exercised?
(e) Other factors: are there other matters that should be noted? For
example, is any
institution required by law to preserve the documentary heritage in
this nomination?
Offensichtlich wurden
diese Richtlinien während des Nominierungsverfahrens nicht eingehalten.
Es liegen genügend leicht zugängliche Anhaltspunkte dafür vor, daß die
im Antrag enthaltenen Angaben nicht zutreffen können. Es stellt sich
die Frage, warum dies nicht bemerkt und warum keine Maßnahmen zur
rechtzeitigen Feststellung der tatsächlichen Überlieferungs- und
Rechtsverhältnisse getroffen wurden, zumal die UNESCO sich grundätzlich
dessen bewußt zu sein scheint, daß der Erfolg ihres Programms von einem
einheitlichen Umgang mit diesen Richtlinien mit abhängt. Der im
November 2005 veröffentlichte Schlußbericht der 7. Sitzung des
International Advisory Committee für das Programm Memory of the World
empfiehlt:
The General
Guidelines must be known, fully observed, and implemented and all
actions of the IAC, sub-committees, and staff must be fully consistent
with them. Changes in the Guidelines can occur only by due process.
Procedures set out in the Guidelines will be fully implemented.
Interpretations of the Guidelines will be collected in preparation for
subsequent revision of them and to clarify procedures for new members.
Die zitierten
Empfehlungen gehen zurück auf ein Diskussionspapier: "Memory of the
World Programme: A debate about its future", das von George Boston, Ray
Edmondson und Dietrich Schüller verfaßt wurde und einer IAC-Sitzung in
Lijiang vorlag. Die Richtlinien sind demnach verbindlich und voll zu
implementieren.
Im Februar 2008 veranstaltet
die UNESCO eine Konferenz zu ihrem Programm Memory of the World in
Canberra, und es ist zu hoffen, daß von dieser Konferenz Anstöße
zur Vermeidung solcher Probleme ausgehen, wie sie im Fall der Kasseler
Grimm-Handexemplare aufgetreten sind. Denn es wäre paradox, daß ein
Programm zur Pflege des Weltdokumentenerbes dazu mißbraucht werden
könnte, verfälschte Geschichtsbilder und daraus abgeleitete
Rechtsansprüche von der UNESCO absegnen zu lassen. Ebenso paradox wäre
der Fall, daß nach der Aufdeckung solcher Verfälschungen auf nationaler
Ebene eine Rangelei um die von der UNESCO “geadelten”
Bestände entsteht, durch die letzlich gar der eigentliche Eigentümer
unter Druck gerät, aus politischen Rücksichten auf seine Rechte ganz
oder teilweise zu verzichten. Die für das Weltdokumentenerbe
zuständigen Gremien der UNESCO sollten ihre Verantwortung für
möglicherweise schädliche Auswirkungen ihres Programms erkennen und
derartigen Problemen sowohl vorbeugen als auch aktiv bei der
Bereinigung der Unstimmigkeiten einschreiten, wenn Dokumente, wie im
jetzigen Fall, unter Zugrundelegung falscher historischer und
rechtlicher Angaben in das Register aufgenommen wurden. Denn durch den
UNESCO-Prozeß erhält jegliches Geschehen um diese Dokumente eine
zusätzliche politische Dimension, was ein Schutz für die Dokumente sein
kann, was es aber auch erschwert, die durch die UNESCO-Gremien
mitgetragenen und beurkundeten Verhältnisse noch zu verändern, auch
wenn sie unrechtmäßig oder unsachgemäß sein sollten.
Nachdem einleitend die besonders problematischen Punkte aus dem Antrag
der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. angesprochen und dem
UNESCO-Regelwerk gegenübergestellt wurden, sei nun im einzelnen die
Geschichte der Kasseler Handexemplare von Werken der Brüder Grimm
behandelt.
2. Geschenk von zwei Bänden
Handexemplare der “Deutschen Grammatik” an die Landesbibliothek Kassel
1885
... Karteikarte
Ludwig Deneckes mit Abschrift der Widmung der drei Kinder Wilhelm
Grimms, Berlin,
8. Januar 1885 (Universitätsbibliothek der Humboldt-Universität zu
Berlin)
... Dankbrief
des Oberbibliothekars Albert Duncker an Herman Grimm, 15. Januar 1885
(Hessisches Staatsarchiv Marburg)
Das erste Handexemplar von
Werken der Brüder Grimm, das in das Eigentum der Landesbibliothek
Kassel gelangte, war der in zwei Teilbände aufgeteilte Band 1 der
“Deutschen Grammatik” Jacob Grimms in der Erstausgabe von 1819, des
Werkes also, das als ein Meilenstein der historischen Sprachforschung
dessen internationalen Ruhm begründete. Die drei Kinder Wilhelm Grimms schenkten
es der Landesbibliothek Kassel anläßlich des hundertsten Geburtstags
von Jacob Grimm (4. Januar 1885). Das Exemplar enthält eine Widmung mit
den Unterschriften der drei Kinder Wilhelm Grimms, Herman, Rudolf und
Auguste, aus der Zeitpunkt, Adressat und Absicht der Schenkung
hervorgehen. Wie die Märchen-Handexemplare befinden sich auch diese
beiden Bände seit langem im Brüder Grimm-Museum; obwohl der Wortlaut
der Widmung dort hinlänglich bekannt sein dürfte, behauptete der Leiter
des Museums und Geschäftsführer der Brüder Grimm-Gesellschaft im
UNESCO-Antrag und anderweitig, die Grammatikbände seien (um) 1897 der
Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. zum Geschenk gemacht worden. So heißt
es im UNESCO-Antrag: "After the Brüder Grimm-Gesellschaft e.V.
(Brothers Grimm Association), whose first member was Herman Grimm, son
of Wilhelm Grimm, was founded in 1897, the association acquired the
Handexemplare of the Grimms Brothers' most important works (including
the "German Grammar" of 1819, et al.) for the Kassel Grimms collection."
Die Widmung Herman, Rudolf und Auguste Grimms hat folgenden Wortlaut
(nach einer Abschrift Ludwig Deneckes):
Dies
Handexemplar der ersten Ausgabe der Deutschen Grammatik von Jacob Grimm
schenken zur Erinnerung an den 4. Januar 1885 die Kinder Wilhelm Grimms
der hessischen Landesbibliothek zu Cassel. Berlin, den 8. Januar 1885.
Erhalten ist auch der Dankbrief des Oberbibliothekars der
Landesbibliothek Kassel,
Albert Duncker, an Herman Grimm vom 16. Januar 1885, in dem es heißt:
Ew. Hochwohlgeboren
haben im Verein mit Ihren Geschwistern durch das Geschenk des
Handexemplars des ersten Bandes von Jacob Grimms “Deutscher Grammatik”
an die hessische Landesbibliothek den Beamten derselben die freudigste
Überraschung bereitet. Nehmen Sie den innigsten Dank für diese ebenso
werthvolle als durch die hochherzige Gesinnung der Schenker rührende
Gabe entgegen.
Das Buch wird von nun an seinen Platz empfangen an der Stätte, die
Ihrem Vater und Oheim, glorreichen und gesegneten Angedenkens, ihr
Leben lang theuer blieb als Zeuge ihres glücklichen gemeinsamen
Schaffens im Heimathlande.
(Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 340 Grimm, Br 971)
Daß die beiden Grammatik-Bände
sich im Eigentum der ehemaligen Landesbibliothek befanden, kann auch
deshalb als allgemein bekannt vorausgesetzt werden, da dieses Faktum in
gedruckten Beiträgen zu den Brüdern Grimm mehrfach erwähnt wurde. So
zitierte Dunckers Nachfolger im Amt des Oberbibliothekars der
Landesbibliothek, Edward Lohmeyer, in einem Artikel über die Kasseler
Grimm-Sammlung in der “Oberhessischen Zeitung”, Illustriertes
Sonntagsblatt, zweites Blatt, 6. 12. 1896, aus einem von Herman
Grimm an Lohmeyer gerichteten Brief:
Ich habe seiner Zeit die
beiden Bände der Grammatik der Hessischen ständischen Landesbibliohek
zum Geschenk gemacht, weil mein Wunsch war, es möchte dieses Zeichen
der gelehrten Arbeit Jakobs aus den Casseler Zeiten dort zur Erinnerung
an ihn verbleiben.
Auch die Grimm-Forschung der
Nachkriegszeit kannte die Überlieferungs- und Eigentumsverhältnisse der
beiden Grammatik-Bände. So heißt es bei Karl Schulte Kemminghausen und
Ludwig Denecke: Die Brüder Grimm in Bildern ihrer Zeit, Kassel 1963, S.
127, als Nachweis zur Abbildung einer Seite aus diesen beiden Bänden
mit Notizen Jacob Grimms:
Das Buch von Schulte
Kemminghausen / Denecke ist in der zweiten Auflage von 1980 unter den
im UNESCO-Antrag von der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. genannten
Quellen angeführt. Obwohl dort die korrekte Information zu finden ist,
behauptet der UNESCO-Antrag der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. etwas
anderes. Anders als im Antrag und in anderen neueren
Veröffentlichungen der Brüder Grimm-Gesellschaft angegeben, wurden die
Grammatik-Bände nicht im Zusammenhang mit der Gründung der alten
Kasseler Grimm-Gesellschaft dieser zum Geschenk gemacht, sondern
bereits 1885 der Landesbibliothek.
3. Die alte Kasseler
Grimm-Gesellschaft
... Bericht
“Die Kasseler Grimm-Gesellschaft 1896 bis 1905” von Edward Lohmeyer,
Kassel 1906 (Kopie freundlicherweise mitgeteilt von Wolfgang
Windfuhr)
... Dieter Hennig über die alte
Kasseler Grimm-Gesellschaft, 1973
Selbst wenn die Kasseler
Handexemplare von Werken der Brüder Grimm (um) 1897 der alten Kasseler
Grimm-Gesellschaft zum Geschenk gemacht worden wären, würden sie nicht
der heutigen Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. gehören, und schon gar
nicht kontinuierlich seit 1897, wie der Antrag behauptet. Denn diese
Gesellschaft bestand nur bis 1920, und die 1942 gegründete Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. steht in keiner Rechtsnachfolge zu ihr. Zudem
legte die alte Kasseler Grimm-Gesellschaft satzungsmäßig fest, daß die
von ihr gesammelten Grimmiana Eigentum der Landesbibliothek sein
sollten und daß das gesamte Vermögen der Gesellschaft im Auflösungsfall
der Landesbibliothek zu übertragen war.
Die Kasseler Grimm-Gesellschaft entstand auf Betreiben von
Bibliothekaren der Landesbibliothek Kassel. Motivation dafür war der
Unmut, daß das Nationaldenkmal für die Brüder Grimm in ihrer
Geburtsstadt Hanau und nicht in Kassel errichtet worden war und daß
Mitte der 1890er Jahre in Hanau auch an der Gründung eines
Grimm-Museums gearbeitet wurde. Die Kasseler Bibliothekare waren der
Meinung, daß Kassel der geeignetere Standort für ein solches Museum und
daß der optimale Standort eben die Kasseler Landesbibliothek sei, die
ohnehin viele Erinnerungen an die Brüder Grimm als ihre ehemaligen
Mitarbeiter bewahrte.
Über die Entstehung der Gesellschaft und ihre Leistungen berichtet im
Detail der zum zehnjährigen Bestehen vom Spritus rector und
Gründungsvorsitzenden der Gesellschaft, Oberbibliothekar Edward
Lohmeyer, 1906 vorgelegte Bericht.
Darin ist S. 30—32 auch die Satzung der alten Kasseler
Grimm-Gesellschaft abgedruckt, in der es heißt (Hervorhebungen von der
Redaktion von Grimmnetz.de):
§ 1.
Die Kasseler Grimm-Gesellschaft stellt sich die Aufgabe, das Andenken
an die Brüder Grimm in einer ihrer hohen Bedeutung entsprechenden Weise
zu ehren.
§ 2. Dies Ziel sucht die Gesellschaft insbesondere zu erreichen:
1. durch eine Sammlung, die, im Anschluß an den auf der
Landesbibliothek in Kassel befindlichen Grundstock, Erinnerungen
aller Art an die Brüder, an ihren Verwandten- und Freundeskreis
vereinigt und in das Eigentum der genannten Anstalt übergeht,
soweit nicht anderweite Rechte vorbehalten sind,
2. durch
Veranstaltung von Vorträgen, ...
§ 7 ... Für den Fall der Auflösung der Gesellschaft wird ihr gesamter
Besitz, soweit nicht anderweite Rechte vorbehalten sind, Eigentum der
Ständischen Landesbibliothek in Kassel. (S. 30—32)
Auf der Grundlage des soeben
zitierten Geschäftsberichts referierte Dieter Hennig, Direktor der
Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel und Landesbibliothek, Leiter
des Brüder Grimm-Museums und Geschäftsführer der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V., in einem Katalog der Ausstellung des
Grimm-Museums 1973 die Geschichte der Kasseler Grimm-Gesellschaft.
Die entscheidende Passage aus
der Satzung führte er wörtlich an (Hervorhebungen wiederum
Grimmnetz.de):
... Sammlung, die, im
Anschluß an den auf der Landesbibliothek in Kassel vorhandenen
Grundstock, Erinnerungen aller Art an die Brüder, an ihren
Verwandten- und an ihren Freundeskreis vereinigt und in das
Eigentum der genannten Anstalt übergeht, soweit nicht anderweite Rechte
vorbehalten sind ...
Der Katalog von Hennig ist der
heutigen Geschäftsführung der Brüder Grimm-Gesellschaft bekannt, denn
er wird im Antrag an die UNESCO in der Bibliographie zu den
Märchen-Handexemplaren genannt. In jüngeren Darstellungen der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. wird die Satzung der alten Grimm-Gesellschaft
in einer gekürzten Fassung zitiert, so daß nicht mehr deutlich wird,
daß satzungsmäßige Eigentümerin der Grimm-Bestände die Landesbibliothek
war: In einem Abriß zur eigenen Geschichte auf der Website Grimms.de
heißt es:
Auch in der gedruckten
Darstellung zum angeblichen Jubiläum "Hundert Jahre Brüder
Grimm-Gesellschaft" (in: Jahrbuch der Brüder Grimm-Gesellschaft 7
[1997], S. 8) und im Beitrag "Die Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. und
die literarischen Grimm-Stätten in Hessen" (in: Kultur und Politik —
Die Grimms, hrsg. von Bernd Heidenreich und Ewald Grothe. Frankfurt a.
M. 2003, S. 345) findet sich die Satzung der alten Kasseler
Grimm-Gesellschaft um genau jene — oben unterstrichenen — Passagen
gekürzt, die das Eigentum der Landesbibliothek an den Erwerbungen der
alten Kasseler Grimm-Gesellschaft für die Grimm-Sammlung von Beginn an
ganz klar festlegen. Beide Beiträge stammen aus der Feder des
Geschäftsführers der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. und Leiters
des Brüder Grimm-Museums Kassel. Die im Vergleich zu den Quellen, seien
es nun Originalunterlagen der alten “Kasseler Grimm-Gesellschaft” oder
der Bericht von Hennig, feststellbaren Kürzungen hinsichtlich des
Satzungszweckes “Sammlung” lassen die Vermutung zu, daß der
Geschäftsführung der heutigen Brüder Grimm-Gesellschaft die
tatsächlichen Satzungsbestimmungen bekannt sein müssen und daß sie
bewußt irreführend ausgelassen wurden.
4. Ausleihe der Märchen-Handexemplare von Herman Grimm an
Johannes Bolte, Berlin 1899
... Leihvereinbarung Johannes Boltes mit
Grimm-Nachlaßverwalter Reinhold Steig, Berlin, 4. Januar 1899 (Hessisches Staatsarchiv Marburg)
Im Vorwort zum Band 5 der
“Anmerkungen zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm” von Johannes Bolte
und Georg
Polívka berichtete der Erstere 1932:
Das Werk gehört zur
Standardliteratur über die “Kinder- und Hausmärchen” der Brüder Grimm.
Die Handexemplare sind hier erstmals gründlich ausgewertet worden.
Insofern verwundert es sehr, daß Bolte / Polívkas Grundlagenforschungen
im Antrag der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. an die UNESCO nicht
genannt werden, obwohl die im Antrag enthaltene Bibliographie sonst
sehr ins Detail geht, beispielsweise beim Thema der Grimm-Rezeption.
Die Aussage Boltes im Vorwort zum Band 5, daß er die Handexemplare der
“Kinder- und Hausmärchen” von Herman Grimm entliehen habe, läßt sich
durch eine Leihquittung belegen, die Bolte und der von Herman Grimm
beauftragte Nachlaßbetreuer Reinhold Steig am 4. Januar 1899, also am
114. Geburtstag Jacob Grimms, in Berlin aufnahmen. Auch die Übergabe
der Bände an die Landesbibliothek Kassel 33 Jahre später ist durch
überlieferte Dokumente bezeugt, hierzu weiter unten.
In der von Bolte und Steig unterzeichneten Leihquittung vom 4. Januar
1899 heißt es:
Herr Dr. Johannes Bolte
(Elisabeth Ufer 37 hierselbst wohnhaft, erhielt heute zu litterarischer
Verwerthung aus den Händen des Herrn Dr. Reinhold Steig, an den er sie
in einiger Zeit zurückgeben wird, folgende dem Nachlaß der Brüder Grimm
zugehörige Handexemplare und Fascikel:
Märchen 1812 und 1815 .......... 2 Bde.
Märchen 1819—1822 (3 Bde) .......... 3 “
...
(Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 340 Grimm, P 92)
Bei den fünf im Zitat genannten
Bänden, zwei von 1812 / 15 und drei von 1819 / 22, handelt es sich um
diejenigen, die auf Antrag der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. 2005 von
der UNESCO in das Verzeichnis des Weltdokumentenerbes aufgenommen
wurden.
5. Auflösung der Kasseler Grimm-Gesellschaft 1920
... Auflösungsprotokoll
vom 8. Juni 1920 (Universitätsbibliothek Kassel)
Wie aus dem Bericht
Edward Lohmeyers von 1906 hervorgeht, konnte die Kasseler
Grimm-Gesellschaft beachtliche Erfolge beim Ausbau der Grimm-Sammlung
der Landesbibliothek erzielen, die als eigene Signaturenreihe in der
Handschriftenabteilung geführt wurde. Die Gesellschaft hatte allerdings
nur wenige aktive Mitglieder. Da Ideen und Arbeitsleistungen
großenteils von Lohmeyer persönlich eingebracht wurden, litt die
Gesellschaft seit ihrer Gründung an Lohmeyers sich verschlechterndem
Gesundheitszustand. Die Vorbereitungen für wissenschaftliche
Publikationen der Gesellschaft kamen zum Erliegen, nachdem Herman Grimm
1901 verstarb und es sich herausstellte, daß er keine testamentarische
Bestimmung über eine zuvor zugesagte Beihilfe zu Druckkosten
hinterlassen hatte. Soweit es die Akten erkennen lassen, war die
Gesellschaft bereits vor Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr aktiv.
1920 trugen die verbliebenen Mitglieder dem eingetretenen Stillstand
Rechnung und lösten den Verein auf. Das Protokoll
der außerordentlichen Mitgliederversammlung mit vier Anwesenden,
auf der die Auflösung beschlossen wurde, ist mit anderen Akten der
Kasseler Grimm-Gesellschaft in der Handschriftenabteilung der heutigen
Universitätsbibliothek Kassel erhalten geblieben. Es heißt darin:
(Universitätsbibliothek Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche
Bibliothek der Stadt Kassel, Handschriftenabteilung, 2° Ms. Hass. 598)
Die Handexemplare der “Kinder-
und Hausmärchen”, darunter die fünf Bände des jetzigen
UNESCO-Weltdokumentenerbes, befanden sich zu dieser Zeit noch in
Berlin. Die Angabe der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V., sie seien
seit 1897 ununterbrochen in ihrem Eigentum (siehe
oben Punkt 1), ist
also falsch,
1. weil die Bände so früh überhaupt noch nicht nach Kassel kamen,
2. weil sie, selbst wenn sie ab 1897 der Kasseler Grimm-Gesellschaft
übergeben worden wären, automatisch laut deren Satzung in das Eigentum
der Landesbibliothek übergegangen wären und
3. weil schließlich eine Kontinuität im Bestehen einer
Grimm-Gesellschaft nicht gegeben war, sondern sich die alte Kasseler
Grimm-Gesellschaft 1920 auflöste.
6. Übergabe der Märchen-Handexemplare an die
Landesbibliothek Kassel 1932
... Briefwechsel zwischen Johannes Bolte und
Wilhelm Hopf, 1932
(Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz)
1932 wurden die “Anmerkungen zu den Kinder-
und Hausmärchen der Brüder Grimm” von Bolte / Polívka mit dem Band 5
abgeschlossen. Aus dem Vorwort des Bandes, in dem Johannes Bolte
schreibt, daß er für die Ausarbeitung der “Anmerkungen ...” von Herman
Grimm die Handexemplare der KHM erhalten hatte und daß diese nun der
Landesbibliothek Kassel übergeben worden seien, haben wir oben zitiert. Im Nachlaß Boltes sind ein Entwurf bzw. eine Abschrift seines
Begleitbriefes bei Übergabe der Bände an den Direktor der
Landesbibliothek, Wilhelm Hopf, sowie dessen Antwortbrief
erhalten geblieben. Bolte schrieb am 8. 10 1932:
als mir Herr Professor Herman
Grimm vor mehr als dreißig Jahren die Handexemplare der Brüder Grimm
von den Kinder- und Hausmärchen für die neue Bearbeitung der
Anmerkungen übergab, bestimmte er, daß diese Bücher nach Erledigung
meiner Arbeit an die Grimm-Sammlung der Casseler Landesbibliothek
übergehen sollten.
Diesem Auftrage gemäß erlaube ich mir, Ihnen jene neun Bände zu
übersenden ...
(Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz,
Handschriftenabteilung, Nachlaß Bolte, Kasten 15, Fasz. 8, Bl.15)
Die im Brief Boltes folgende
Aufstellung stimmt mit der in der Leihquittung
von 1899 überein, bis auf die nicht ganz unwichtige Einzelheit, daß
ein neunter Band hinzugekommen ist: vom dritten Band in dritter Auflage
(Anmerkungsband, 1856) werden der Landesbibliothek Kassel zwei
Exemplare übergeben, davon eines mit breitem Rand. Den Empfang der
Bände bestätigt Bibliotheksdirektor Hopf am 12. 11. 1932:
Die Sendung — neun Bände
Handexemplare der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm — ist
richtig und vollständig, wie sie in Ihrem Schreiben vom 8. Oktober d.
Js. einzeln aufgeführt werden, hier eingegangen. Leider war gerade in
diesem Augenblick in der zunächst in Betracht kommenden
Zugangsabteilung infolge Beurlaubung eine Vertretung gegeben, durch die
Ihre Sendung nicht sofort erledigt, sondern zurückgelegt wurde und zu
meinem lebhaften Bedauern bis heute liegen blieb. Ich bitte, dieses
unglückliche Zusammentreffen, durch das auch die Bestätigung des
Eingangs unterblieben ist, freundlichst zu entschuldigen, und darf
Ihnen zugleich den ergebensten Dank aussprechen für Ihre Sendung, die
für uns eine eben so willkommene wie wertvolle Bereicherung unserer
Grimmsammlung bedeutet.
(Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz,
Handschriftenabteilung, Nachlaß Bolte, Briefe Hopf)
Daß die Märchen-Handexemplare
von Herman Grimm der Kasseler Landesbibliothek zugedacht waren, scheint
jedenfalls in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts allgemein
bekannt gewesen zu sein. Der Leiter der Handschriftenabteilung an der
Preußischen Staatsbibliothek Berlin, Karl Christ, schrieb während
Verhandlungen mit der Kasseler Bibliothek über einige strittige
Grimm-Objekte, es liege
die ausdrückliche Bestimmung
Herman Grimms vor, dass alle Handexemplare der Märchen nach ihrer
Bearbeitung durch Johannes Bolte an die Kasseler Bibliothek gegeben
werden sollten.
(Karl Christ an Wilhelm Hopf, 13. 1. 1938; Hessisches Staatsarchiv
Marburg, Bestand 223 Nr. 241)
7. Gründung
der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. 1942
... Prospekt der
Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. zur Mitgliederwerbung, ca. 1943
Am 19. November 1942 fand in
Kassel die feierliche Veranstaltung zur Eröffnung einer neuen Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. statt. (Zu diesem Zeitpunkt war die
Landesbibliothek Kassel im Museum Fridericianum bereits schwer durch
Bombardierung geschädigt.) Mit einem Prospekt
warb die Brüder Grimm-Gesellschaft um Mitglieder. Zu Arbeitsinhalten
und Projekten wird ausgeführt:
Die Veranstaltungen und
Veröffentlichungen der Gesellschaft werden über die Grenzen der Heimat
hinaus in dem stets auf die Ganzheit des höheren völkischen Lebens
gerichteten Geist der Brüder Grimm einer umfassenden Wissenschaft vom
deutschen Volke zu dienen suchen.
Nie das Ziel wahrer Volkstümlichkeit aus dem Auge lassend, wird die
Brüder Grimm-Gesellschaft dem überkommenen Kulturgut in Ehrfurcht vor
dem Erbe der Ahnen ihre Arbeit widmen, nicht allein zur Erhaltung des
Bedrohten, sondern vor allem zur Fruchtbarmachung des noch immer
Lebendigen. In tätiger Treue zur Vergangenheit gilt gerade hier ihr
Dienst unserer Gegenwart.
In einer Zeit des starken Neuwerdens müssen Kräfte da sein und am Werke
sein, die den Zusammenhang zwischen dem unverlierbaren Alten und dem
heraufkommenden Neuen wahren und die Stetigkeit der Entwicklung
sichern. Zu diesem Dienst ruft die Brüder Grimm-Gesellschaft alle auf,
die seine Bedeutung und Notwendigkeit erkennen.
Ihrem Ziel dient die Brüder Grimm-Gesellschaft durch Vorträge und
Vortragsreihen, Arbeitsgemeinschaften, Lesungen, Ausstellungen.
Regelmäßige mehrtägige Brüder Grimm-Tagung in Kassel. Neuherausgabe der
Werke der Brüder Grimm, ihres Briefwechsels usw. Herausgabe und
Neuherausgabe von Werken aus dem Arbeitsgebiet der Gesellschaft.
Herausgabe eines Brüder Grimm-Jahrbuches. Herausgabe einer Zeitschrift.
Förderung der Forschung auf dem Arbeitsgebiet der Gesellschaft.
Förderung der Grimm-Forschung. Förderung in Hessen lebender Dichter und
Schriftsteller, sofern ihr Schaffen für das Arbeitsgebiet der
Gesellschaft von Bedeutung ist.
Festzuhalten ist, daß die
Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. bei ihrer Gründung sich nicht in
Rechtsnachfolge zur alten Kasseler Grimm-Gesellschaft sah und auch
keine Ansprüche auf die Grimm-Bestände der Landesbibliothek erhob.
Solche Konstruktionen blieben einer späteren Epoche vorbehalten.
Außerdem ist bemerkenswert, daß sie sich keinerlei Sammelauftrag gab.
8. Die Kasseler Grimm-Handexemplare im Zweiten Weltkrieg
Aus den Akten der Kasseler Landesbibliothek geht hervor, daß alle von
Johannes Bolte übergebenen KHM-Bände (bis auf einen) und das
zweibändige Handexemplar der “Deutschen Grammatik” sich über die großen
Bombardierungen hinweg in Kassel erhalten hatten. In einer Auflistung
von damals heißt es:
Die Ausg. der Märchen mit
Randbemerkungen der Brüder Grimm sowie andere alte wertvolle Grimmsche
Märchenausgaben und Jacob Grimms Handexemplar der Grammatik mit
Nachträgen von seiner Hand liegen im Schliessfach der Landeskreditkasse.
(Hessisches Staatsarchiv Marburg, Bestand 223 Nr. 112)
Nachfolgend listete die
Landesbibliothek die in ihrem Depot in der Landeskreditkasse lagernden
Handexemplare der KHM mit den damaligen Signaturen einzeln auf, dazu
auch das Handexemplar der Grammatik.
K.
Gr. Sg. 341 Grimm, Jacob u. Wilhelm. Kinder- u. Hausmärchen. Bd. 1.
2. 1812. 1815.
K. Gr. Sg. 341 a Dass. Handex. der Brüder mit handschriftlichen
Randbemerkungen. Bd. 1. 2. 3.
(in 2. Aufl.) 1819
K. Gr. Sg. 341 b Dass. 2. Aufl. Bd. 2. 3. 1819. 1822
K. Gr. Sg. 341 d Dass. 3. Aufl. Bd. 3 1856
2° Philol. 112, 1. 2. Jacob Grimm. Deutsche Grammatik. Jacob Grimms
Handexemplar mit vielen
handschriftlichen Nachträgen. T. 1. Hälfte 1. 2.
Göttingen: Dieterich 1819.
(ebd.)
Es fällt auf, daß in der
Signaturenfolge der im Schließfach der Landeskreditkasse eingelagerten
Bände die Nummer 341 c fehlt. Vermutlich war sie mit dem anderen der
beiden Exemplare des Anmerkungsbandes von 1856 belegt, die Johannes
Bolte der Landesbibliothek 1932 übergeben hatte (s.
o.). Wohin die Bibliothek
den Band Nr. 341 c ausgelagert hatte, ist bisher nicht ermittelt.
9.
Landesbibliothek und Murhardsche
Bibliothek nach 1945; Gründung des Brüder Grimm-Museums 1959;
Veränderungen des Eigentumsstatus von Bibliotheksbeständen 1957 / 58
und 1975 / 76
... Universitätsbibliothek
Kassel, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel
... Gründungsvertrag
des Brüder Grimm-Museums Kassel
Die Buchbestände
der Landesbibliothek Kassel wurden durch die mehrfachen Bombardierungen
Kassels im Zweiten Weltkrieg zum größten Teil vernichtet. Die Sammlung
der Handschriftenabteilung blieb fast vollständig erhalten. Auch
Bestände der Murhardschen Bibliothek, einer Stiftung der Brüder
Friedrich und Karl Murhard an die Stadt Kassel, wurden durch die
Bombardierungen zu rund 60 Prozent vernichtet, insgesamt überstand die
Murhardsche Bibliothek infolge ihrer Lage am Rand des Stadtzentrums den
Krieg jedoch besser als die Landesbibliothek. Bei der Murhardschen
Bibliothek blieb auch das Gebäude benutzbar; das der Landesbibliothek,
das Museum Fridericianum, stand erst etwa zehn Jahre nach Kriegsende
wieder zur Verfügung. Schon in der letzten Zeit des Dritten Reichs
bestand die Absicht, die Landesbibliothek mit der Murhardschen
Bibliothek zusammenzulegen, um anstelle zweier beschädigter eine
vereinigte intakte wissenschaftliche Bibliothek zu schaffen. Diese
Absichten wurden nach dem Krieg wieder aufgegriffen und in den
fünfziger Jahren nach langwierigen Verhandlungen zwischen dem Land
Hessen und der Stadt Kassel in die Tat umgesetzt. Das Land Hessen
übertrug die Bestände der Landesbibliothek mit Ausnahme der
Handschriften in das Eigentum der Stadt Kassel. Die Hauptbestimmungen
des Vertrags vom 19. 11. 1957 / 13. 1. 1958 hinsichtlich des Eigentums
an der bisherigen Landesbibliothek lauteten:
§ 1, Abs.
2. Zum 1. April 1957 geht die Landesbibliothek mit allen Aktiva und
Passiva, mit den Akten der Verwaltung und den Beständen an Büchern,
Karten und Noten in das Eigentum und die Verwaltung der Stadt über.
Abs. 3. Das Land Hessen verzichtet auf eine Entschädigung. Es behält
sich das Eigentum an den Handschriften vor, die in der Anlage zu diesem
Vertrag aufgeführt sind. [Anmerkung Grimmnetz: Die Anlage listet die
Handschriftengruppen der ehemaligen Landesbibliothek auf.] Die Stadt
Kassel verpflichtet sich, die Handschriften in der Bibliothek
aufzubewahren und für eine odnungsmässige Unterhaltung und Verwaltung
der Handschriften Sorge zu tragen.
(Kopie des Vertrags in der Handschriftenabteilung der
Universitätsbibliothek, Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek
Kassel)
Aus dem Vertrag ergibt sich, daß
die Handschriftensammlungen der Landesbibliothek (darunter auch
Objekte, die sich bis heute im Brüder Grimm-Museum befinden)
kontinuierlich Landeseigentum waren.
Die praktische Zusammenführung der beiden Bibliotheken wurde unter der
Direktion Ludwig Deneckes vollzogen, der die dann so genannte
Murhardsche und Landesbibliothek (MuLB) von 1959 bis 1969 (oder 1968?)
leitete. Er war zugleich Leiter des 1959 von der Stadt Kassel und der
Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. in der Murhardschen und
Landesbibliothek eröffneten Brüder Grimm-Museums. Deneckes Nachfolger
als Bibliotheksdirektor und Museumsleiter war Dieter Hennig. Während
der Direktion von Denecke und Hennig wurden aus den Druck- und
Manuskriptsammlungen der Bibliothek zahlreiche Grimmiana entnommen und
zu Ausstellungs- und Forschungszwecken in die Räume des Museums
verbracht. Das Brüder Grimm-Museum galt während der Amtszeit Ludwig
Deneckes und Dieter Hennigs als Teil der Murhardschen und
Landesbibliothek, ebenso das Documenta-Archiv. Schriftstücke Dieter
Hennigs führen dies im einzelnen aus; im Hinblick auf den Status des
Grimm-Museums als frühere Abteilung der Bibliothek bewilligte jene dem
Museum zur Vorbereitung der Ausstellungen “200 Jahre Brüder Grimm” noch
in den achtziger Jahren Zugang zu Magazinbereichen (Dokumente im
Stadtarchiv Kassel). Eine Veränderung des Eigentumsstatus der 1959 bis
1975 in das Museum verbrachten Grimmiana aus der Landesbibliothek, der
Murhardschen Bibliothek und der vereinigten Murhardschen und
Landesbibliothek während der genannten Zeitspanne von 1959 bis 1975 in
der Weise, daß etwa ehemalige Bestände der Landesbibliothek rechtlich
aus der Bibliothek herausgelöst worden wären oder gar städtisches
Eigentum an die Brüder Grimm-Gesellschaft übertragen worden wäre o. ä.,
erfolgte nicht. Die im Vertrag von 1957 ausgeklammerten Handschriften
befanden sich 1957 bis 1975 im Landeseigentum, die übrigen Bestände im
Eigentum der Stadt Kassel.
Mit der Gründung der Gesamthochschule Kassel veränderten sich die
Anforderungen an das Kasseler Bibliothekswesen. Die Gesamthochschule
und heutige Universität benötigte eine moderne und leistungsfähige
Bibliothek, und es lag nahe, die in Kassel bereits vorhandene
wissenschaftliche Bibliothek mit ihren wertvollen Altbeständen dabei
einzubeziehen. Im Vertrag vom 12. 12. 1975 über die Integrierung
der Murhardschen Bibliothek der Stadt Kassel und Landesbibliothek in
das Bibliothekssystem der neuen Gesamthochschule übernahm das Land
Hessen die 1957 der Stadt Kassel übereigneten Bestandteile der alten
Landesbibliothek, darunter Bücher, Karten und Noten, zurück in sein
Eigentum.
Der gesamte Bibliotheksverbund wird seit dem 1. 1. 1976 vom Land Hessen
verwaltet. Im einzelnen bestimmt der Vertrag dazu folgendes
(Hervorhebungen Grimmnetz):
§ 1 Abs. 1. Die MuLB geht zum
1. Januar 1976 mit den Akten der Verwaltung und den Beständen an
Büchern, Katalogen, Karten, Noten, Mikrofilmen, Bildern, Handschriften,
Möbeln, Gerät und sonstigen beweglichen Einrichtungen in die Verwaltung
des Landes Hessen über.
Abs. 2. Die Stadt bleibt Eigentümerin aller Bestände der MuLB nach dem
Stand vom 31. Dezember 1975 an Büchern, dazugehörenden Katalogen,
Karten, Noten, Mikrofilmen, Bildern, Handschriften und Akten. ... Diese
Bestände gehen unter dem Namen “Murhardsche Bibliothek der Stadt
Kassel” in die Verwaltung des Landes über. ...
Abs. 3. Alle im Absatz 2 nicht aufgeführten beweglichen
Einrichtungsgegenstände sowie die im Vertrag zwischen der Stadt
Kassel und dem Land Hessen vom 19. 11. 1957 / 13. 1. 1958 in
§ 1 Abs. 2 bestimmten Sachen [Anmerkung Grimmnetz: Dies entspricht
dem Gesamtkomplex ehemalige Landesbibliothek außer den ohnehin im
Landeseigentum befindlichen Handschriften] gehen in das Eigentum
des Landes über.
(Staatsanzeiger für das Land Hessen, Nr. 7 [1976], S. 325 ff.)
Der in Absatz 3 zitierte Absatz
2 im § 1 des Vertrages von 1957 / 58 ist oben
angeführt. Sein Inhalt war die Übereignung aller Bestände der alten
Landesbibliothek außer den in Absatz 3 des § 1 von 1957 behandelten
Handschriften an die Stadt Kassel gewesen. Die Handschriften waren
ohnehin im Landeseigentum verblieben, die übrigen Teile der
Landesbibliothek wurden mit Abschluß des neuen Vertrags am 12. 12. 1975
an das Land rückübertragen. Am 31. 12. 1975 befanden sich in den
Beständen der künftigen “Murhardschen Bibliothek” nach § 1 Absatz 2 des
Vertrags von 1975 noch die Altbestände der Murhardschen Bibliothek aus
der Zeit bis 1957 und die seit 1957 für die vereinigte MuLB neu
erworbenen Bestände.
Seit der Ausgliederung des Brüder Grimm-Museums aus dem
Bibliotheksverbund gibt es Unstimmigkeiten um die im Grimm-Museum
zurückgehaltenen Grimmiana aus der Landesbibliothek. Überzeugende
rechtliche Begründungen für die Zurückbehaltung der Grimmiana im Brüder
Grimm-Museum liegen nicht vor. Im Vertrag über die Gründung des Museums
vom 15. Dezember 1959 ist jedenfalls nichts über eine etwaige
Veränderung des Eigentumsstatus der aus dem Bibliotheksbestand zur
Verfügung gestellten Exponate ausgesagt. Sie dürften als unbefristete
Leihgaben zu qualifizieren sein und müßten demnach ggf. auf Verlangen
der Universitätsbibliothek zurückgegeben werden. Weiterführende
Recherchen zu diesem Thema dauern noch an.
10. Brief von Wissenschaftlern und Bibliothekaren an die
UNESCO mit der Bitte um Richtigstellung der falschen Angaben zu
Überlieferungs- und Eigentumsverhältnissen, 2006
... Brief an
die UNESCO vom 13. November 2006
... deutsche
Fassung
Nachdem durch
Veröffentlichungen im Lauf der letzten Monate deutlich geworden ist,
daß die Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. sich in ihrem Antrag an die
UNESCO 2004 in kaum begreiflicher Weise selbst als Eigentümerin der
Kasseler Grimm-Handexemplare benannte und behauptete, sie sei seit 1897
Eigentümerin dieser Exemplare, sahen sich die Kasseler
Universitätsbibliothek und Grimm-Forscher zu einer genauen Prüfung
dieser bereits auf den ersten Blick unplausiblen und unstimmigen
Angaben veranlaßt. Die Überprüfung ergab, daß die von der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V. im Antrag mehrfach wiederholten Informationen
zu den Überlieferungs- und Eigentumsverhältnissen an diesen Büchern
völlig unrichtig sind, wie oben im einzelnen dargelegt wird. Man kann
sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es das Ziel dieser
Verfälschungen gewesen sein könnte, die Handexemplare aus dem
öffentlichen Eigentum zu entfremden und völlig in die Verfügungsgewalt
der Brüder Grimm-Gesellschaft e. V. zu bringen. Der Fall geht über die
elf Bände Handexemplare weit hinaus, weil diese Ansprüche der Brüder
Grimm-Gesellschaft e. V., wenn sie unwidersprochen blieben, wohl früher
oder später auch für andere Grimm-Bestände aus der ehemaligen
Landesbibliothek Kassel (und für Grimmiana aus städtischem Eigentum)
erhoben würden. Die im Fall der Märchen-Handexemplare aufgedeckte
Entfremdung öffentlichen Eigentums zugunsten einer privaten
Körperschaft zeigt, daß sich das vom Brüder Grimm-Museum verwahrte
öffentliche Eigentum in akuter Gefahr befindet. Es ist unabdingbar, daß
unverzüglich alle mit öffentlichen Mitteln angeschafften Drucke,
Handschriften und anderes Eigentum der Stadt Kassel und des Landes
Hessen daraufhin untersucht werden, ob sie noch vorhanden sind und ob
sie schon eine Eigentumskennzeichnung einer privaten Körperschaft
(Brüder Grimm-Gesellschaft e. V.) tragen.
Die Aufklärung dieser Sachverhalte und eine rechtlich und sachlich
einwandfreie Neuregelung sind nicht nur ein Anliegen historischer
Rekonstruktion, sondern vielmehr geht es um einen gravierend
krisenhaften Zustand, der von der UNESCO, dem Land Hessen und der Stadt
Kassel zügige und entschiedene Reaktionen verlangt im Interesse des
öffentlichen Zugangs zu den Dokumenten und einer seriösen
Grimm-Forschung und im Sinn derjenigen, die seit Mitte des 19.
Jahrhunderts zu diesen Sammlungen beigetragen und sie gepflegt haben.
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