Märchenhandlungsorte
(Grimmforum, 2006-2007)

Noch eine Frage:

Die Deutsche Märchenstraße wurde ja erst recht spät ins Leben gerufen. Gab es denn vor 1945 und besonders im 19. Jahrhundert schon konkrete Orte, die mit den Märchen der Brüder Grimm in direktem Bezug gesehen wurden, wie heute die Trendelburg mit dem Rapunzelturm und die Sababurg, das Dornröschenschloss? Oder ist im 19. Jahrhundert nie der Versuch unternommen worden, bestimmte Orte, Schlösser, als explizite Märchenhandlungsorte zu >verkaufen<? Weiß man dazu irgendetwas? Gibt es vielleicht sogar eine entsprechende Publikation??

Danke!


Regina Freyberger, 30. Juni 2006
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Ortsbezüge zu Grimm-Märchen meist moderne Legenden
Das zunehmende Inbeziehungsetzen konkreter Orte zur Handlung von Grimmschen Märchen ist wohl eine Nebenerscheinung des neueren Tourismus. Eine fragwürdige selbstverständlich.
Eine noch ganz gesunde Vorform könnte man vielleicht in den Illustrationen Otto Ubbelohdes zu den Grimmschen Märchen sehen, für die er sich oft geeignete Orte in Hessen als Szenen suchte, denen ihrerseits etwas von dem Nimbus blieb, den sie durch diese Illustrationen erhielten.
Eigentlich ist die Beziehung zu konkreten Orten oder Personen der Gattung Märchen, wie sie im 19. Jahrhundert von verwandten Erzählformen per wissenschaftlicher Begriffsprägung abgetrennt wurde, fremd. Typisch für Märchen der Grimmschen Art ist es, daß die Handlung nicht zeitlich-historisch-örtlich und auch nicht auf authentische Personen fixiert ist. Solche Gebundenheiten sind demgegenüber nach Grimmschem Verständnis typisch für die Sage. Entsprechend haben die Brüder Grimm offenbar das ihnen vorliegende Material sortiert, wobei es allerdings nicht ganz ohne Widersprüchlichkeiten abging.
Jedenfalls sind konkrete örtliche Zuordnungen in den Grimmschen Märchen äußerst selten, etwa wie im „Mäken von Brakel“ (KHM 139): Et gieng mal ’n Mäken von Brakel na de sünt Annen Kapellen uner de Hinnenborg …. Nicht auszuschließen ist, daß örtliche Zuordnungen in der damaligen lebendigen Erzählpraxis gleichwohl häufiger waren, als es beim Durchsehen der Grimmschen Sammlung zunächst einmal den Anschein hat. Dieser Frage wäre in jedem Einzelfall gesondert nachzugehen, wobei veröffentlichte und — sofern vorhanden — unveröffentlichte regionale Erzählsammlungen heranzuziehen wären.

Vor allem ist aber festzustellen, daß es bei der Inanspruchnahme von Märchentraditionen mitunter zu grotesken Übertreibungen kommt, etwa wenn es zur Trendelburg heißt: Rapunzel soll hier, den Gebrüdern Grimm zufolge, ihr Haar herunter gelassen haben. (http://www.diemelradweg.de/streckenverlauf.php ?page=17). Derartiges ist bei den Brüdern Grimm nicht zu lesen. Als Kommentar zu solch forschen Behauptungen sei zitiert, was Heinz Rölleke unlängst aus gegebenem anderen Anlaß sagte: Nun wissen wir alle, dass sich an das Gedenken an die Märchen-Brüder Grimm mehr erfundene Märchen geheftet haben als sonst schon allenthalben im kulturgeschichtlichen Erinnern üblich. Doch die meisten dieser bestenfalls gut gemeinten, jedenfalls seriöse Interessenten irreführenden Erfindungen gehen aufs Konto der Manager der sogenannten Märchenstraße oder lokaler Kulturstätten, die nicht auf Genauigkeit aus sind, sondern auf Attraktion, und die gern für eine Steigerung der Touristenzahlen ihre Seele verkaufen. (Zitiert in einem anderen Beitrag des Grimmforums.)

Mit derartiger verfälschender Reklame ist niemandem gedient. Die Erlebnisse des angeblich authentischen Orts werden Talmi, sobald man die Legenden an der historischen Überlieferung mißt, und gelernt hat der Tourist bestenfalls, nächstens vorab kritischer zu sein — wenn er überhaupt etwas merkt freilich. Der Ort, für den diese Art von Reklame gemacht wird, ist damit letztlich eher seines Eigenwertes beraubt. (Traurig ist mitunter, daß die sehr interessante wirkliche Geschichte einer Örtlichkeit anscheinend nicht „zieht“ und durch den Bezug zu Grimmschen Märchen aufgeputzt werden muß.)
Man sollte sich bei dieser Art von Marketing beschränken auf:
– Märchen, Sagen und Legenden, die tatsächlich in einer touristischen Region existiert haben und die in ein Tourismuskonzept einbezogen werden können
– tatsächliche Bezüge zu den Grimms und ihrer Märchensammlung, für die dann dasselbe gilt
– Örtlichkeiten, in deren Natur und Kulturdenkmälern etwas aus der historischen Umwelt der Märchen überlebt hat und die dann eben im Sinn eines ‚als ob‘ und historischen Konjunktivs zu den Märchen in Beziehung gesetzt werden können (wenn das seriös gemacht wird, fördert es sowohl einen authentischen Zugang zu den Märchen als historisches Bewußtsein allgemein).

Berthold Friemel, 8. Juli 2006
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Vielen Dank für Ihre ausführliche Antwort!

Wieso ich überhaupt auf den Gedanken verfiel, dass unter Umständen schon früher gewisse Ort mit den Grimmschen Märchen in Beziehung gesetzt wurden, lag gerade an Künstlern wie Ubbelohde. Ich wusste, dass Otto Ubbelohde in seinen Zeichnungen zu den Grimmschen Märchen, hessische Schauplätze als Vorlage für seine Illustrationen wählte und zwar dezidiert als >Märcheninterpretation<. Hermann Vogel ließ sich für seine Gesamtausgabe 1894 (München: Braun und Schneider) an den Motiven seiner vogtländischen Heimat inspirieren: dies dürfte allerdings eher als >inhaltslose< (nicht interpretierende) Motivübernahme anzusehen sein. Und der Landschaftsmaler Viktor Paul Mohn schuf derart >realistisch< wirkende Märchenlandschaften für den 1882 entstandenen Märchenstrauß (Berlin: Stilke), dass sie den Eindruck erwecken, man könnte sie – wie seine Dornröschenburg – tatsächlich (topographisch) identifizieren.
Dadurch drängte sich letztlich der Gedanke auf, dass unter Umständen schon damals bestimmte Orte als märchenhaft wahrgenommen wurden, – auch wenn die Grimmschen Märchen dazu keine Anhaltspunkte liefern und es dem Wesen des Grimmschen Märchens – wie ich Ihnen vollkommen zustimme – zuwider läuft.
Daher ist es für mich gut zu wissen, dass ein – um es mal überspitzt zu formulieren – dezidierter Märchen>tourismus< im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch nicht existierte. (Auf der Homepage der Deutschen Märchenstrasse wird nicht einmal darauf hingewiesen, wie es zu der Zuweisung der Örtlichkeiten zu den einzelnen Märchen gekommen ist…)

Und Sie haben absolut recht: es ist wirklich schade, dass gewisse Orte nicht über ihre eigene Geschichte, sondern nur noch über die >Märchenverbindung< als interessant verkauft werden können!

Nochmals vielen herzlichen Dank!

Regina Freyberger, 9. Juli 2006
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Auch die Illustrationen Viktor Paul Mohns lassen sich topografisch zuordnen.Mit seinen Illustrationen für „Märchen-Strauß für Kind und Haus“ hat er eindrucksvoll die sächsische Schweiz in Szene gesetzt,eine Landschaft,die heute noch den Eindruck erweckt,als könnten dort noch Zwerge nach Silber graben oder Hexen in den tiefen Wäldern hausen…😂

Rotkäppchen, 15. Februar 2007

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