Aus dem Leben und Kleben des Freiherrn von Meusebach
Meusebach und die deutsche Philologie
Zu Lebzeiten ist unter Meusebachs Namen keine germanistische Publikation erschienen, dafür aber eine Reihe von kenntnisreichen pseudonym bzw. anonym publizierten Rezensionen, unter anderem zu seinen Spezialinteressen Fischart und deutsches Kirchenlied, zu Eckermanns „Gesprächen mit Goethe“ und zu Bettina von Arnims „Briefwechsel mit einem Kinde“ von 1835, eine fast 50 Spalten der „Allgemeinen Literatur-Zeitung“ einnehmende Besprechung, die der später berühmte Philologe Moriz Haupt wortreich lobte: „der treffenden, feinen, zierlichen und dichterischen [stellen] sind gar zu viele und mein höchstes lob gebührt dem geiste der in dem ganzen waltet und es zu schöner einheit zusammenhält, jenem künstlerischen und sittlichen und … echt goethischen sinne für mass. dieser durchdringt Ihre ganze recension und bedingt und begründet tadel und lob“ (S. 452).
Die ohnehin problematische Unterscheidung Dilettant und Spezialist ist für die Charakterisierung Meusebachs unbrauchbar. Meusebach selbst verstand sich in gewissem Maß selbst als Literat und war noch dem 18. Jahrhundert, der vorromantischen, der empfindsamen Literatur verbunden, schrieb als junger Mann Gedichte, bewunderte Wieland und Gleim, eiferte in Humor und Stil seinem Jugendhelden Jean Paul nach.
Anders als etwa die Brüder Grimm — zumal als hauptberuflicher Richter — trat er nicht mit regelmäßigen wissenschaftlichen Aufsätzen und Monographien hervor, sein wissenschaftliches Talent konzentrierte sich auf die Sammlung von deutscher Literatur des 16. bis 18. Jahrhunderts, er unterstützte Nachwuchswissenschaftler, indem er sie seine Bibliothek nutzen ließ und mit Material versorgte, sie in seinen Freundeskreis herausragender Philologen einführte und seinen Einfluss für ihre Karriere einsetzte. 1823 wurde Hoffmann von Fallersleben von Meusebach dabei unterstützt, eine Bibliothekarstelle zu erhalten: „Hoffmann reicht sofort ein Bittgesuch um die Custodenstelle in Breslau ein, ein Gesuch, das er am 14. Januar 1823 wiederholt. Bei dieser wie bei weiteren Gelegenheiten hat Meusebach seine alten Beziehungen zum Wohle seines neuen Schützlings diskret spielen lassen“ (S. 339).
Nach seinem Tod schilderte Meusebachs Frau Ernestine die Arbeitsweise ihres Mannes, der oft die halbe Nacht in seiner Bibliothek arbeitete, Bücher ordnete, las und exzerpierte. Am Ende seines Lebens verstärkte sich laut Ernestines Beschreibung Meusebachs Hang, sich zwar wie kein Zweiter in Themen einzuarbeiten, dabei aber die Ergebnisse nur schwerlich in Publikationen umzuformen. „Noch immer saß er die Nächte bis 2—3 Uhr auf trug sich Abends alles zusammen zu seinen Arbeiten, ohne daß bedeutendes gefördert wurde, und oft warf er die Feder ungeduldig weg mit dem Ausruf ‚ich kann auch gar nicht mehr schreiben.‘ Dabei stellte sich die schon von der frühesten Jugend an wundersame Zusammenstellung seiner Natur immer greller hervor.“ (S. 556) Der Germanist Friedrich Zarncke, der die Bibliothek katalogisierte, konnte nachweisen, „daß er [Meusebach] mehr als 20,000 Bände nicht bloß durchgelesen, sondern auf’s mühsamste, oft mehrmals zu verschiedenen Zwecken, Seite für Seite durch ausgezogen hat“ (S. 578). Meusebach gehörte im 19. Jahrhundert zu den besten Kennern der neueren deutschen Literatur.
Möchte man Meusebachs Position innerhalb der sich etablierenden deutschen Philologie näher bestimmen, lohnt sich auch ein Blick auf seine Kooperation mit Karl Lachmann, dessen Lessing-Ausgabe von 1838—1840 richtungsweisend für das neugermanistische Editionswesen war. „Als Lachmann seine große Ausgabe der Werke Lessings veranstaltete, konnte er sich auf die fast vollständigen Bestände von Erstausgaben in Meusebachs Lessing-Sammlung stützen.“ (S. 481 f.)
Die Villa Meusebach in Geltow an der Havel.
Beschreibung von Meusebachs Bibliothek
aus dem „Handbuch der historischen Buchbestände
in Deutschland, Österreich und Europa“
Meusebachs Bibliothek war zu seinen Lebzeiten Anziehungspunkt für namhafte Persönlichkeiten des kulturellen und geistigen Lebens, von denen sich besonders Bettina von Arnim nach seinem Tode für die geschlossene Erhaltung der Bibliothek und ihren Ankauf durch Friedrich Wilhelm IV. einsetzte. Ihr Gesamtbestand betrug 25.000 Werke in 36.000 [Bänden], gegliedert in zwei Hauptabteilungen und den wissenschaftlichen Apparat. Die erste Abteilung umfaßte deutsche Literatur vornehmlich des 16. bis 18. Jhs, der sich als besondere Gattungen Volkslieder, geistliche Lieder, Dramen, Satiren, Volksbücher, Sprichwortsammlungen u. a. anschlossen, eine selbständige Luthersammlung mit 3500 [Bänden] sowie Theologie und historische Flugschriften aus der Reformationszeit. Als Autoren waren neben Luther u. a. besonders Johann Fischart und Goethe vertreten. Zur zweiten Abteilung gehörten Werke der Sprach- und Sittengeschichte, auch Kosmographien, Chroniken, Sammlungen oder Einzelausgaben von Orts- und Landrechten, naturwissenschaftliche und mythologische Werke, als Anhang auch griechische, lateinische und neulateinische Klassiker. Der zur Bibliothek gehörige Apparat enthielt Meßkataloge, Kataloge von Auktionen, Antiquariaten und privaten Bibliotheken, biographische und bibliographische Nachschlagewerke, Lexika, Wörterbücher, Grammatiken und anderes. 1096 Autographe und 228 [Handschriften] gelangten in die Handschriftenabteilung. Die Druckschriften wurden in den Hauptbestand eingearbeitet. Allein die erhalten gebliebenen Liedsammlungen mit 2000 [Bänden] sowie die Einblattdrucke des 16. und 17. Jhs stellen einmalige literarische Denkmäler und Quellen dar.
... Fabian-Handbuch, s. v. Staatsbibliothek zu Berlin — Preußischer Kulturbesitz
Meusebach und seine Bibliothek
„Nicht hauptsächlich für mich sammle ich die alten Dichter, sondern für die Nachwelt, daß sie erhalten werden, daß sie nicht untergehen, daß noch nach Jahrhunderten ein Mann so viele Freude dran hat wie ich jetzt, aber nur nicht so viele Mühe, sie zusammen zu suchen, wie ich jetzt“, schrieb Meusebach 1821 an Clemens August Schlüter (S. 329).
Meusebachs Bibliothek wurde postum vom preußischen Staat aufgekauft und gehörte zu den wichtigsten Erwerbungen der Königlichen Bibliothek, der heutigen Berliner Staatsbibliothek. Schon Zarncke, dessen Bericht über die Bibliothek im Anhang S. 576—584 abgedruckt ist, betont, dass Meusebach nicht bloß aus bibliophilem Interesse Bücher gesammelt hat — bis heute wird er oft Bibliophiler genannt —, sondern aus dezidiert wissenschaftlichem, und gibt folgenden Überblick: „I. Es ist [Meusebach] in einem gewiß seltenen Umfange gelungen, in den häufigsten Fällen der princeps [also der Erstausgabe] der Ausgabenreihe theilhaft zu werden, und zwar in vielen Fällen des 17. und 18. Jahrhunderts den Literatoren noch völlig unbekannte Ausgaben als principes aufzuweisen. … II. Die Vollständigkeit der Ausgabenreihen ist oft überraschend, in nicht wenigen Fällen unbedingt erreicht. … III. Ein ganz vorzüglicher Werth liegt endlich in der Menge der kleinen, minder beachteten Schriften, die man das Füllsel der Literatur nennen möchte.“ (S. 583)
„Meusebach, einer der liebenswürdigsten und sonderbarsten menschen, die es geben kann“ (Jacob Grimm)
Ohne Meusebachs Sinn für das Seltene, Abwegige und Kleine wären einige Drucke bis heute nicht überliefert worden. Ein junger Besucher, Rudolf Baier, damals noch Student, berichtet 1842 aus der Bibliothek: „Nach dem Kaffee wurden ein paar große Folianten vorgenommen, die im Zimmer auf dem Klavier ihren Platz hatten. Es waren zwei Bände, Papptafeln umfassend, die mit Ausschnitten aus Zeitungen beklebt waren. Meusebachs Humor und sein Sinn für das Seltsame, Verschrobene, Burleske, Kapriziöse, Lächerliche, ja Unsinnige hatte seit lange Gefallen daran gefunden, öffentliche Ankündigungen und Mitteilungen zu sammeln, die durch ihren Inhalt oder ihre Fassung in der angegebenen Richtung wirkten“ (S. 535). Baier schildert Meusebachs Klebekunst, die titelgebend für Lückoffs Buch geworden ist; bekannt sind auch Meusebachs protodadaistische Klebebriefe, Briefe, in denen Teile des Textes aus Zeitungsausschnitten bestehen, mit denen er unter anderem die Kinder der Familie Grimm zu Weihnachten erfreute.
Mit den Grimms pflegte die Familie Meusebach ein enges Freundschaftsverhältnis. Jacob Grimm widmete Meusebach 1828 das Buch über „Deutsche Rechtsaltertümer“, Meusebach erhielt von den Brüdern Grimm wertvolle Bücher und Handschriften als Geschenke, etwa eine spätmittelalterliche Neidhart-Handschrift, und Jacob Grimm setzte Meusebach in seiner Vorrede zum „Deutschen Wörterbuch“ ein kleines Denkmal. Meusebach hingegen rezensierte Grimms „Deutsche Grammatik“.
Klebebrief von Meusebach an Herman Grimm von 1844.
Meusebach als Jurist
Der junge Karl von Meusebach — so sein Rufname — studierte zwar die Rechte, hatte aber ständigen Kontakt zu bekannten Philologen seiner Zeit, in der Universität und privat. So wohnte er als Gymnasiast des Domgymnasiums Merseburg vier Jahre lang bei dem Konrektor und klassischen Philologen Johann Augustin Wagner, der mit Übersetzungen und Ausgaben klassischer und mittelalterlicher lateinischer Texte hervortrat (Wagners Edition der Chronik Thietmars von Merseburg wurde erst von Johann Martin Lappenbergs ersetzt, über die im Grimm-Lappenberg-Briefwechsel diskutiert wird, siehe die Kritische Ausgabe, Bd. 8). In Göttingen war einer seiner Lehrer der berühmte Professor Gustav Hugo (dessen Briefwechsel mit Grimm siehe Kritische Ausgabe, Bd. 3), daneben hörte er aber auch bei dem Orientalisten Eichhorn, dem klassischen Philologen und Orientalisten Heyne und anderen Professoren der philosophischen Fakultät. Christian Gottlob Heyne stand nicht nur mit Lessing, Herder und Winckelmann in Kontakt, er bildete auch eine Reihe nachher bedeutender Philologen aus, zum Beispiel Georg Friedrich Benecke. In Leipzig setzte sich dieser illustre Umgang fort, wo Meusebachs Vermieter Gottfried Hermann war, der in der ersten Hälfte de 19. Jahrhunderts einer der wichtigsten klassischen Philologen Deutschlands wurde.
Meusebach war im deutschen Recht ausgebildet, eignete sich in der Franzosenzeit aber auch das neue französische auf der Grundlage des Code Napoléon an und galt auf dem Gebiet als seltener Experte. Im hessischen Dillenburg, der Heimat seiner Frau, wirkte er als Staatsanwalt, um dann in Koblenz einen steilen Karriereschritt zu machen und in preußischen Diensten Präsident des dortigen Revisionshofes zu werden, der mit dem Status des heutigen Bundesgerichtshof – damals aber nur zuständig für die rheinischen preußischen Gebiete mit französischem Recht – verglichen werden kann. In Berlin war er dann Richter am Rheinischen Revisions- und Kassationshof, der Nachfolgeinstitution des 1819 aufgelösten Koblenzer Gerichts. Savigny war dort sein Kollege. Die Stelle in Berlin bedeutete für Meusebach einen Karriereknick, denn er erhielt dort keinen vergleichbar hohen Posten wie in Koblenz. Das lag wahrscheinlich daran, dass er die sogenannte Koblenzer Adresse unterschrieb, eine von Joseph Görres initiierte Petition an den preußischen König, die sich gegen die preußische Reaktion und für die Einführung einer Verfassung aussprach. Details zu diesem Vorgang sind noch unklar.
Der berühmteste Fall, den Meusebach zu bearbeiten hatte, war der Mordprozess gegen den Kölner Kaufmann Peter Anton Fonk, „der erste moderne deutsche Sensationsprozeß“ (S. 339). Meusebach hatte als letztinstanzlicher Richter über das im Rheinland gefällte Todesurteil zu entscheiden und bestätigte es nach langer Bearbeitung der Akten. Heute gilt sein Urteil als Fehler.
Generell galt Meusebach als guter und gewissenhafter Jurist, der sich in alle Details seiner Fälle einarbeitete. Interessanterweise erkennt Lückoff in Meusebachs literaturkritischer Behandlung von Bettinas Goethe-Buch juristische Methodik wieder: „Meusebach ging mit äußerster Akkuratesse ans Werk, er behandelte das Buch wie einen Fall vor Gericht, den es in allen Aspekten zu bedenken gilt.“ (S. 443) „Er lobt und verteidigt das in seinen Augen höchst Schätzenswerte des Buches, manchmal gar gegen dessen Autorin selbst. Er hält ein ausgewogenes Plädoyer. Und nach 48 Spalten skrupulösen Abwägens fällt der hohe preußische Richter am letzten Appellationsgericht für die im fernen Rheinlande oder der näheren und weiteren Umgebung begangenen kapitalen Verbrechen, zu Berlin, und in seiner Eigenschaft als Rezensent das genaue Gegenteil eines Todesurteils: ‚Das Buch wird der Unsterblichkeit schwer zu entziehen seyn.‘“ (S. 447) Zudem schrieb Meusebach diese geheim gehaltene und anonyme Rezension auf Papier im Format seiner Kriminalakten, damit Besucher beim Anblick seines Schreibtisches keinen Verdacht schöpfen konnten.
Im Arbeitszimmer leistete er [August von Cohausen] dem verehrten Manne oft Gesellschaft, der dann besonders gemütlich war, wenn er in seinem violetten Schlafrocke, die von ihm unzertrennliche Pfeife im Munde, da sass und seinen Kaffee schlürfte, zu dessen Mitgenuss er jeden Besucher einlud; er trank fast zu jeder Tageszeit Kaffee und hatte in seinem Zimmer stets ein Kohlenbecken, um dieses Lieblingsgetränk warm zu halten; im Zimmer flogen immer einige Turteltauben umher und legten sich in keiner Weise Zwang auf. Oft verweilte sein junger Freund, da Meusebach sich erst am Morgen zur Ruhe begab, bis tief in die Nacht bei ihm und hörte ihn dann nach und nach sein ganzes Leben bis zur Übersiedelung nach Berlin erzählen, alles mit dramatischer Lebendigkeit und mit anziehender, oft mit feinem Humor gewürzter Ausführlichkeit.
Lückoff: Meusebach, S. 418.
Über den Autor
Dietrich Lückoff (*1957) verstarb unerwartet 2014 und konnte sein Buch über Meusebach nicht selbst fertigstellen, worüber eine Vorbemerkung Auskunft gibt. Wie Meusebach sich intensiv dem Dichter Fischart widmete, erforschte Lückoff wiederum Meusebach mit einer Ausdauer und Liebe zum Detail, die über die heute oftmals projektfinanzierte und kurzlebige Forschung hinaus geht. Lückoff war promovierter Romanist, der auch, wie Meusebach, als Lyriker und Publizist literarisch tätig war. Mit Meusebach verband ihn auch seine Schulzeit in Dillenburg. Nicht nur, dass Lückoff unbekannte Archivmaterialien auswertete, die in seinem Buch ausgewählt gedruckt werden, er besuchte und photographierte auch die Originalschauplätze aus Meusebachs Leben. So kann Lückoff aus Dillenburg berichten: „Der Garten hat sich erhalten, ein verwunschener Ort bis heute. Es ist nur ein paar Jahrzehnte her, dass er im Volksmund noch immer Meusebachs Garten genannt wurde.“ (S. 104)
Dietrich Lückoff: Aus dem Leben und Kleben des Freiherrn Karl Hartwig Gregor von Meusebach.
Stuttgart: Hirzel 2020. (... hier bestellbar)
(Abbildungen aus dem Buch.)
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