Die öffentliche Sicht auf das
Grimm’sche „Deutsche Wörterbuch“ in seiner Frühzeit
Als die Planungen für das DWB 1838 begannen, waren die Brüder Grimm etablierte Wissenschaftler, deren Bekanntheit sich seit der Göttinger Protestation von 1837 nochmals steigerte. Die öffentlichen Reaktionen auf das Grimm’sche Wörterbuch waren fachlich und kulturpolitisch von hoher Relevanz, da das Wörterbuch seit seinen Anfängen in den späten 1830er Jahren als nationales Großprojekt apostrophiert wurde. Zudem war das DWB weit über die Lebenszeit der Brüder Grimm hinaus ein Verlagsprojekt und die öffentliche Aufnahme des Werks beeinflusste dessen Wirtschaftlichkeit für den Verlag. Salomon Hirzel, der Verleger, baute eine Sammlung von Rezensionen des DWB auf, die heute als Kriegsverlust gilt. Sein Briefwechsel mit den Brüdern Grimm gibt viele Hinweise auf zeitgenössische Rezensionen (S. 20), wodurch der Verlust der Sammlung aber natürlich nicht ersetzt werden kann.
Für den vorliegenden Band wurden einige Publikationsorgane systematisch durchsucht: die „Allgemeine Schul-Zeitung“, „Die Grenzboten“ und das „Literarische Centralblatt für Deutschland“. Die Zeitschriften können stellvertretend für drei große Resonanzräume der DWB-Rezeption stehen: die pädagogische, die kulturell-literarische und die fachwissenschaftliche.
Rezensionen in der „Allgemeinen Schul-Zeitung“
Die Brüder Grimm konzipierten das DWB auch als Nachschlagewerk für die bürgerliche Familie, nicht nur als sprachwissenschaftliches Fachbuch — eine wohl zu optimistische Adressierung, wie sich mit der Zeit herausstellte, — und verbanden in ihrem Programm die wissenschaftlich-historische lexikographische Methode mit sprachreformatorischen Ansätzen. Die wohlüberlegte Kleinschreibung im DWB, der Ersatz von ß durch sz, die Wertschätzung und Empfehlung sprachhistorisch fundierter Wortformen sind Aspekte dieser Bemühungen. Das Schulwesen musste sich dadurch angesprochen fühlen, zumal bisher eher nach den Grammatiken Adelungs und Heyses geschrieben wurde, eine allgemeinverbindliche Rechtschreibung aber fehlte. Der Schulmann Karl Wagner aus Darmstadt verfasste für die „Allgemeine Schul-Zeitung“ (begründet 1824) fast zwei Dutzend Rezensionen von DWB-Lieferungen aus den Jahren 1852—1863. Seine Texte „fanden aber bei Jacob Grimm keinen Beifall“ (S. 160).
Der Pädagoge rezensierte 1852 die erste Lieferung überaus wohlwollend und mit nationalem Pathos. Erstens überliefere das Wörterbuch nationalkulturelles „Erbgut“, das DWB sei weiterhin „mit Jubel zu begrüßen“, „2) weil es sie [die deutsche Nation] in den Stand setzt, dem entwürdigenden Gebrauche fremder Wörter und Redensarten mehr und mehr zu entsagen; 3) weil es uns hoffentlich der Einheit in der Schreibung näher führt, indem hier auf wissenschaftlichem Wege eine Lösung von Zweifelsfragen durch Männer gegeben ist, welche mindestens das Ansehen einer französischen Akademie verdienen“ (S. 157). Wagner zitierte in seinen Besprechungen reichlich aus dem Wörterbuch, ohne jedoch in seinen eigenen Ausführungen Jacob Grimms sprachwissenschaftliches Niveau zu erreichen. Wenn er Vorschläge in die Diskussion einbrachte, verliefen sie im Sand und wurden von Grimm und Hirzel in ihrem Briefwechsel gelegentlich und missbilligend erwähnt (S. 224).
DWB-Rezensionen, handschriftliche Liste von Jacob Grimm (Berlin, SB, Nachl. Grimm 266).
Rezensionen in den „Grenzboten“
Die Herausgeber Julian Schmidt, Gustav Freytag und der Redakteur Moritz Busch steuerten viele eigene Texte für das publizistische Hauptorgan des national-liberalen Bürgertums bei, darunter auch mehr als ein Dutzend Ankündigungen und Rezensionen des DWB, wobei Schmidt bei mehreren anonymen Beiträgen nur vermutungsweise als Verfasser angesetzt werden kann. Gustav Freytag, junger Dramatiker und Romancier des literarischen Realismus, schrieb Besprechungen, die den Brüdern Grimm gefielen (S. 380, auch S. 126). Freytag war einer der ersten, der die unterschiedlichen lexikographischen Arbeitsstile Jacob und Wilhelm Grimms beschrieb, zur Freude Wilhelm Grimms und ohne Jacob Grimms Arbeitsweise herabzuwürdigen: „Wenn man die beiden Behandlungsweisen miteinander vergleicht, wird man durch sie kein übles Bild von der verschiedenen Art der beiden Herausgeber erhalten. Wenn bei den frühern Buchstaben ein großer, oft genialer Wurf, die immense Arbeitskraft, das kühne Herumarbeiten eines großen Gelehrten in dem massenhaften Stoff in Erstaunen setzte und fortriß, und wenn die leisen Protestationen von uns Nichtgelehrten durch ein gewisses erhabenes Uebersehen zum Schweigen gebracht wurden, so erfreut und befriedigt hier [in Wilhelm Grimms Artikeln] vorzugsweise das Detail der Ausführung, die strenge Methode, das Maßhalten und die logische Ordnung. Offenbar hat das Werk durch das Eintreten der neuen Methode an Handlichkeit für den nachschlagenden Leser sehr gewonnen, und lebhaft wird der Wunsch, daß dies methodische Verfahren bei allen spätern Heften beibehalten werden möge“ (ebd.).
Tatsächlich wurde im Zuge der Weiterbearbeitung des DWB nach 1863 Wilhelm Grimms Stil als Vorbild für die weitere Ausarbeitung genommen. Freytag, der als junger Universitätsgermanist um 1840 selbst für das DWB ältere deutsche Literatur exzerpierte und dessen eigene literarische Werke als Quellen für das DWB ausgewertet wurden, schrieb stilistisch leichtgängige, gut lesbare Rezensionen, ohne selbst vom linguistischen Fach zu sein – angesichts der Schwierigkeit des Gegenstands keine Selbstverständlichkeit (siehe auch seinen Briefwechsel mit Wilhelm Grimm, http://grimmbriefwechsel.de/bw/bw7/bw7.html). Der DWB-Verleger Hirzel war mit Freytag gut befreundet und gehörte zusammen mit Moriz Haupt und Julius Ludwig Klee, die beide in der Frühzeit des DWB eine wichtige Rolle spielten, zu einem hauptsächlich in Leipzig angesiedelten Freundeskreis von Philologen, Literaten und Verlegern.
Rezensionen im „Literarischen Centralblatt
für Deutschland“
Der junge Germanist Friedrich Zarncke verfasste ein Dutzend Rezensionen von DWB-Lieferungen für das von ihm begründete und verantwortete „Literarische Centralblatt“, das sich im deutschsprachigen Raum zum führenden allgemein wissenschaftlichen Rezensionsorgan entwickelte. Zarncke war vom Fach und konnte in seinen recht kurzen Anzeigen die Grimm’sche lexikographische Leistung fachmännisch mit Vorgängerwerken, etwa Adelung, oder anderen historisch fundierten Lexika wie Graffs althochdeutschem Wörterbuch vergleichen. In den methodischen Auseinandersetzungen um das DWB stand Zarncke auf der Seite der Brüder Grimm, wenn auch Jacob Grimm sich bei Hirzel beklagte, dass sich Zarncke in seinen Anzeigen so kurzfasste (S. 307).
Obwohl Zarncke selten auf Details einging, zeigen seine Texte die genaue Lektüre des Werks. Zu Wilhelm Grimms Artikelstil schrieb er: „die etymologischen Erörterungen treten sehr zurück, wo sie auf Entlegeneres hindeuten, genügt meistens eine kurze Verweisung auf J. Grimm’s Grammatik; dahingegen herrscht hier eine mikrologische Sorgsamkeit, eine Mühsamkeit, ein Sammlerfleiß selbst bei Kleinigkeiten, eine Sauberkeit in den Definitionen, die uns über den Verfasser nicht in Zweifel sein lassen“ (S. 373 f.).
Rückseite eines Notizzettels von Jacob Grimm mit DWB-Rezensionen (Berlin, SB, Nachl. Grimm 266).
Ein herausragendes Beispiel einer Fachrezension
Nicht im „Literarischen Centralblatt“ erschienen, aber mit einer Zarncke vergleichbaren fachlichen Expertise geschrieben, ist die umfangreiche Rezension des Philologen und Sprachwissenschaftlers Rudolf von Raumer, der in der „Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien“ (1858) auf 27 Seiten das DWB ausführlich besprach (in der Edition S. 399—421). Raumer erkennt die streng historische Ausrichtung des DWB an: „Ohne die Untersuchung der Vorgeschichte aber ist eine gründliche Etymologie der neuhochdeutschen Wörter unmöglich und eine möglichst sichere Etymologie ist wiederum die unerlässliche Bedingung für eine wirklich auf den Grund gehende geschichtliche Entwickelung der Bedeutungen eines Worts“ (S. 400). Raumer ordnet die Grimm’sche Lexikographie arbeitsbiographisch und methodisch ein: „Ohne Grimms Grammatik wäre ein Unternehmen wie das ‚Deutsche Wörterbuch‘ gar nicht möglich gewesen. Denn durch Grimms Grammatik ist die deutsche Etymologie erst zur Wissenschaft erhoben worden“ (S. 401).
Sehr genau beurteilt Raumer das exzerpierte Quellenmaterial des DWB und deckt Lücken auf. Ihm fehlten besonders Wortbelege aus den Schriften des Philosophen Christan Wolff, der einen großen Einfluss auf Lessing und Kant gehabt habe. Jacob Grimm habe die neuhochdeutschen Klassiker nicht selbst in einem nötigen Maß durchstudiert, sondern verlasse sich auf von anderen exzerpierte Belege. Hätte Grimm ein Wörterbuch einer alt- oder mittelgermanischen Sprache schreiben wollen, so Raumer, hätte er dies nur nach gründlichem eigenen Studium der Quellen begonnen. Der Rezensent argumentiert dafür, dass Grimms Vorgehen mit einer — heute würde man sagen — Blütezeittheorie zusammenhängt, in deren Rahmen Grimm ältere Sprachen als „organischer“, ursprünglicher bewertet und jüngere, „unorganische“ Sprachstufen vor allem als Abweichungen der früheren gelten.
Eine genaue Interpretation von Raumers Text ist lohnenswert, weil sich in ihm die Weiterentwicklung linguistischer Ansichten in der Nachfolgegeneration der Brüder Grimm exemplarisch nachverfolgen lässt. Seine Kritik, schreibt Raumer, „möge man … nicht so missverstehen, als verkennte ich den unschätzbaren Werth und die unermessliche Bedeutung dieses Werkes“ (S. 419). Jacob Grimm schrieb an Zarncke, Raumers Rezension sei „leeres oder sinnloses geschwätz“ (S. 420), Wilhelm Grimm an Karl Weigand, dass Raumer „in allen stücken unrecht“ habe (ebd.).
Ausblick
Obige Beispiele können nur einen sehr kleinen Ausschnitt aus der Fülle der öffentlichen Diskussionsbeiträge zum DWB bieten. Die Edition präsentiert Texte von weiteren bekannten zeitgenössischen Persönlichkeiten wie Friedrich Hebbel, Martin Hertz, Karl Müllenhoff, Georg Waitz oder Karl Weinhold. Fast die Hälfte des Quellenbandes ist den hartnäckigsten Kritikern des DWB, den lexikographisch arbeitenden Philologen Christian Friedrich Ludwig Wurm und Daniel Sanders, gewidmet, deren Texte zum DWB im hinteren Teil des Bandes ediert wurden. Trotz ihrer oft unsachlichen Polemik gegen die Brüder Grimm sind ihre Texte beachtenswert, da aus ihnen, über das wissenschaftsgeschichtliche Interesse hinaus, Belege für die Sprachverwendung des Deutschen um 1850 und mitunter heute noch relevante lexikographische Argumente gewonnen werden können. Über das in jüngerer Zeit aufkommende Forschungsinteresse an Wurm und Sanders und die wichtigsten allgemeinen Forschungsbeiträge zur Geschichte des DWB gibt das Literaturverzeichnis Auskunft (S. 943—945).
Das Grimmsche Deutsche Wörterbuch in der öffentlichen Diskussion 1838—1863. Eine Dokumentation zeitgenössischer Ankündigungen, Anzeigen und Rezensionen, hrsg. von Alan Kirkness unter Mitarbeit von Berthold Friemel, Philip Kraut und Joël Lorenz. Stuttgart: S. Hirzel 2021. (... hier bestellbar)
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